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Die geheime Aktensäuberung durch die BKP/BSP und durch die Staatssicherheit

Unmittelbar nach dem Zwangsrücktritt von Todor Zhivkov am 10. November 1989 begann man in der Staatssicherheit die das Regime kompromittierenden Spuren in den Archiven zu verwischen. Im Dezember 1989 wurde in der Ersten Hauptverwaltung der Staatssicherheit (die Aufklärung), die ein eigenes Archiv hatte, eine formale Kommission gebildet, die sich der Aktensäuberung annehmen sollte.

Anfang 1990 wurde zum Innenminister der langjährige Chef des Generalstabs der Bulgarischen Volksarmee, General Atanas Semerdzhiev, angestellt (2007 aufgedeckt als Mitarbeiter der Staatssicherheit). Während einer der ersten Sitzungen des Kollegiums des Innenministeriums/Staatssicherheit (vom 10. Januar 1990) schlug der Chef der Sofioter Stadtverwaltung des Innenministeriums, General Nikola Malintshev, vor, „dringende  Maßnahmen zu treffen, um einige unserer Geheimnisse nicht bekannt werden zu lassen. Ich meine unseren Agenturapparat, unsere operativen Berichte, unser Archiv, unsere automatisierten Systeme, das alles ist sehr anfechtbar.“

Am 15. Januar 1990 besetzten DDR-Bürger die Zentrale der Staatssicherheit in Berlin. Sie wollten damit die Vernichtung der Geheimdienstakten stoppen, die bald nach dem Mauerfall begonnen hatte.
In der bulgarischen Staatssicherheit erfuhr man gleich danach, was im „Bruderland“ DDR vor sich geht, und man traf sofortige Vorbeugungsmaßnahmen. Am 18. Januar 1990 schickte der Chef der regionalen Verwaltung der Staatssicherheit in Haskovo, Oberst Krasimir Samandzhiev, ein Telegramm an den Innenminister, General Semerdzhiev, in dem er ihn aufforderte, eine Arbeitsgruppe zusammenzustellen, die zu bestimmen haben sollte, welche Geheimakten und auf welcher Art und Weise zu vernichten waren, wobei der Akzent auf den Anordnungen und Instruktionen im Zusammenhang mit dem „Wiedergeburtsprozess“ liegen solle.

Am nächsten Kollegium des Innenministerium/Staatssicherheit wurde einstimmig beschlossen, „eine Verfügung vorzubereiten und zu billigen über die Gründung einer Arbeitsgruppe zur Einschätzung der geltenden Regelung über die Arbeit der Organe des Innenministeriums. Innerhalb von wenigen Tagen sollte der Leitung des Innenministeriums eine Liste der internen normativen Dokumente vorgelegt werden, die entkräftet und vernichtet werden sollten.“ Die ausgearbeitete Verfügung betraf jedoch nicht nur das interne Regelwerk, sondern auch das ganze Archiv der Staatssicherheit. Am nächsten Tag – am 25. Januar 1990 – legte die Chefin der Abteilung 03 der Stattsicherheit (Archiv), General Nanka Serkedzhieva, eine Aktennotiz zur Säuberung des Archivs bereit, die vom Vizeminister General Stojan Savov unterzeichnet und dem Minister Semerdzhiev zur Billigung vorgelegt wurde. Er billigte sie am gleichen Tag. Die geheime „von besonderer Wichtigkeit“ Aktennotiz wurde am 29. Januar 1990 unter der Nr.IV-68 im Innenministerium formal registriert. Dadurch wurde der Anfang der großen Aktensäuberung des Agenturapparats gesetzt, als Motiv wurde „die komplizierte politische operative Situation“ angeführt.

Laut dieser Verfügung waren von den Unterlagen, die im Archiv der Staatssicherheit aufbewahrt wurden, „die personalen und Arbeitsakten der geheimen Mitarbeiter (bulgarische Staatsbürger) zu vernichten. Nach Vorschlag der operativen Abteilungen sind einige davon zu bewahren. Über die vernichteten Akten wird eine formalisierte Ersatzkarte angefertigt ohne die Namen des geheimen Mitarbeiters, nur mit dem Decknamen und der Registrationsnummer“. Laut Verfügung waren „alle anderen Unterlagen in den Abteilungen zu vernichten“, d.h. vor Ort.

Am 5. Februar 1990 billigte Minister Atanas Semerdzhiev am 25. Januar eine zweite Verfügung, mit der die Vernichtungsprozedur vereinfacht werden sollte, denn es hatte sich herausgestellt, dass für die Erfüllung der gestellten Aufgabe 1200 Personentage (im Sozialismus verwendete Bezeichnung) notwendig wären, und die Operation war vor den bevorstehenden Parlamentswahlen zu erledigen, die BKP/BSP befürchtete nämlich, dass sie das Machtmonopol verlieren könnte. Auf Grund der Verfügungen von besonderer Wichtigkeit von General Atanas Semerdzhiev wurden 42% von den in den Archiven befindlichen Akten vernichtet (statistische Angaben vgl. HIER), über die vor Ort in den Abteilungen vernichteten Akten fehlen jegliche Angaben.

Die Archivsäuberung war eine Verletzung der streng geheimen von besonderer Wichtigkeit Instruktion über die operativen Berichte, die genaue Fristen für die Aufbewahrung und Erhaltung der Akten bulgarischer und fremder Bürger vorschrieb. Die BKP und die Staatssicherheit waren  aber in Eile, denn ihr Ziel war, durch die Aktensäuberung die Kontrolle über den Agenturapparat zu behalten, was sie im Laufe von 15 Jahren erfolgreich taten, bis 2006,  als ein vollständigeres Gesetzt über den Zugang zu den Akten der Staatssicherheit und über die Aufdeckung ihrer Mitarbeiter verabschiedet wurde.
Anfang 1990 wurde in der Ersten Hauptverwaltung der Staatssicherheit noch eine formelle Kommission aus operativen Mitarbeitern auf öffentlich-rechtlicher Grundlage zusammengestellt (pensionierte Offiziere der Aufklärung), die damit begannen, die Akten in der Aufklärung zu untersuchen, die damals ca. 60 000 waren. Laut Archivangaben der Ersten Hauptverwaltung der Staatssicherheit wurden zwischen 10 000 und 20 000 Akten vernichtet. Dies geschah in den Öfen des Metallurgiekombinats „Lenin“ (heute „Stomana“ Pernik), wohin sie nachts mit Lastkraftwagen transportiert und verbrannt wurden.

Erst 1992 wurden die geheimen Verfügungen des Ex-Innenministers zur Aktenvernichtung öffentlich bekannt. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Verfahren gegen ihn und gegen die  Ex-Chefin der Staatssicherheitsabteilung 03 „Archiv“, General Nanka Serkedzhieva ein (vgl. über das Verfahren gegen sie im Artikel „Verfahren gegen die Aktenvernichtung – HIER).


Das Archiv der Abteilung 06 der Sechsten Verwaltung der Staatssicherheit


Nach 1992 wurde im Innenministerium festgestellt, dass Archiv und Kartei der 06-Abteilung der Sechsten Verwaltung der Staatssicherheit für Bekämpfung der Ideologischen Diversion fehlten. Die Abteilung beschäftigte sich mit den sog. antistaatlichen Handlungen oder mit Aktivitäten, die ausschließlich gegen die oberste Leitung der BKP gerichtet waren, sowie mit Fällen von Korruption und Unterschlagungen innerhalb der kommunistischen Obrigkeit und Nomenklatura vor dem 10. November 1989. Der letzte Chef dieser Abteilung war Hauptmann Dimitar Ivanov, der nach den politischen Veränderungen die Laufbahn eines Geschäftsmanns einschlug als Vizepräsident der Gruppe „Multigrupp“, die vom ehemaligen Ringkämpfer Ilia Pavlov gegründet worden war.

In den 1990er Jahren behauptete Dimitar Ivanov mehrmals in öffentlichen Äußerungen, dass  das Archiv schon 1989 vernichtet worden ist. Er verfasste mehrere Bücher, wo er genaue Angaben über Ermittlungen, Verfahren und Agenten erwähnte, ohne jedoch die Quellen zu zitieren. Erst 2000 leitete die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen ihn ein.


Die vernichtete Akte des Bankiers Atanas Tilev

Im Jahr 2000 wurde es öffentlich bekannt, dass 1993 der damalige Direktor des Nationalen Aufklärungsdienstes (Nachfolgerstruktur der Ersten Hauptverwaltung der Staatssicherheit) General Brigo Asparuchov, langjähriger Kaderoffizier der Aufklärung zur Zeit des kommunistischen Regimes, unrechtmäßig die Akte seines Freundes, des Geschäftsmanns und Bankies, Atanas Tilev, vernichtet hat; Tilev hatte schon  in den 1980er Jahren engen Kontakt zum Ex-Monarchen im Exil Simeon von Sachsen-Coburg und Gotha.  

Tilev wurde 1972  als geheimer Mitarbeiter der Ersten Hauptverwaltung der Staatssicherheit angeworben unter dem Decknamen „Rumjantsev“, als er schon mit der Tochter des finnischen Außenministers Ahti Karjalainen verheiratet war. Seine Akte, die aus 5 Bänden und 1500 Seiten bestand, wurde 1993 von General Asparuchov vernichtet, was ein Verstoß gegen die Verfügung des Ministerrates war.

Tilev kam nach den politischen Veränderungen nach Bulgarien zurück und wurde Inhaber der Banken Balgarska zemedelska banka und Dobrudzhanska banka, nach deren Bankrotten verließ er 1996  das Land während der Bankkrise zur Zeit der Regierung von BSP. Anschließend wurde er für Kreditmillionär erklärt.

2015 wurden von der Aktenkommission im Archiv der Ersten Hauptverwaltung der Staatssicherheit zusätzliche Unterlagen entdeckt (außerhalb von der vernichteten Akte), die eindeutig belegen, dass wegen seiner Verwandtschaft mit dem finnischen Außenminister „Rumjantsev“ unter die Kontrolle des KGB geraten war. Die Staatsanwaltschaft ermittelte auch in diesem Falle der unrechtsmäßigen Vernichtung von Archiven der Staatssicherheit (vgl. mehr über den Ausgang der Ermittlung – HIER).