„Volksgericht“: Beseitigung der Führung der staatlichen, politischen und militärischen Elite
Das sog. Volksgericht ist ein außerordentliches Gerichtsorgan, das nach der Okkupation des Königreichs Bulgarien durch die Rote Armee der UdSSR und nach dem Putsch am 9. September 1944 von der Regierung der Vaterländischen Front in Widerspruch zu der damals gültigen Tarnover Verfassung gegründet wurde. Es funktionierte in der Zeit zwischen Dezember 1944 bis April 1945, als Folge seiner Tätigkeit wurde die Führung der staatlichen, politischen und militärischen Elite des Landes beseitigt.
Am 17. September 1944 verkündete der Premierminister Kimon Georgiev das Regierungsprogramm der vaterländischen Front, in dem auch die Schaffung von einem „Volksgericht für die Schuldigen an den Grausamkeiten gegenüber den Freiheitskämpfern und der friedlichen Bevölkerung Bulgariens“ vorgesehen war.
Am 30. September 1944 verabschiedete der Ministerrat einstimmig eine Verordnung mit Gesetzeskraft für die Verurteilung durch ein Volksgericht der Schuldigen an der Verwicklung Bulgariens in den Weltkrieg gegen die Verbündeten Völker und an den damit zusammenhängenden Gräueltaten.
Gerichtliche Auseinandersetzung unter den Bedingungen sowjetischer Okkupation
Die Verordnung mit Gesetzeskraft wurde verabschiedet mit der Unterstützung des Bauernbundes, der Sozialdemokraten, der Zveno-Partei sowie einzelner politisch ungebundener Intellektuellen, alle Mitglieder der Vaterländischen Front. Später sollte ein großer Teil von ihnen die Wirkung der verabschiedeten Gesеtze spüren.
Am 6. Oktober wurde die Verordnung veröffentlicht und trat in Kraft. Vom Ministerpräsidenten Kimon Georgiev wurde sie als Versuch dargestellt, den blutigen Terror nach dem 9. September 1944 zu stoppen, doch praktisch legitimierte sie die Säuberungen und verwandelte sich in ein geeignetes Mittel zur Vernichtung der politischen Gegner.
Die Verordnung wurde verabschiedet und funktionierte unter den Bedingungen der fortwährenden Okkupation Bulgariens durch einen Teil der Dritten Ukrainischen Front; gegen die Anwendung der Verordnung gab es keinerlei Widerstand. Die Vorbereitung und die Durchführung der Prozesse verliefen in Zusammenarbeit mit den Vertretern der Sowjetunion im Rahmen einer Gemeinsamen Kontrollkommission.
Bei der Vorbereitung der Gerichtsverfahren wurden ca. 30 000 Menschen verhaftet, 10 000 davon wurden verurteilt. Gegen die Familien der vom „Volksgericht“ Angeklagten wurden ebenfalls Maßnahmen getroffen: 11 000 Menschen wurden in verschiedene Gegenden des Landes interniert.
Für die Gerichtsverfahren wurden 13 Oberste Kollegialgerichte und 125 mit regulärer Besetzung gebildet. Das Erste oberste Kollegialgericht verurteilte die Exminister, die Regenten und Hofräte, das Zweite Oberste Kollegialgericht urteilte über die Abgeordneten der 25. Volksversammlung (1940 – 1944).
Georgi Dimitrov aus Moskau: Niemand darf freigesprochen werden!
Die Direktiven von Georgi Dimitrov, dem Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der Gesamtsowjetischen kommunistischen Partei (Bolsheviki), die er Ende Dezember 1944 und Anfang Januar 1945 durch Sondertelegramme aus Moskau über die Verfahrensweise der „Volksgerichte“ erteilte, sind sehr aufschlussreich für die Grausamkeit und den Revanchismus des Sowjetbürgers, der damals aus der sowjetischen Hauptstadt seine Anordnungen an die Bulgarische Arbeiterpartei (Kommunisten) zukommen ließ.
„Niemand darf freigesprochen werden! Keine Erwägungen der Humanität und Mitleid dürfen eine Rolle spielen“ – das sind die Befehle von Georgi Dimitrov. Die hohen Parteiführer in Sofia, mit denen er in ständiger Verbindung stand, waren Traitsho Kostov und Valko Tshervenkov.
Der größere Teil der Richter wurde von der Vaterländischen Front, die restlichen, einschließlich die Gerichtsvorsitzenden, wurden vom Justizminister Mintsho Neitshev bestimmt, d.h. entweder von einem politischen Organ oder von der Exekutive, ohne erforderlichen Bildungsgrad, auch keinen juristischen. Die Ankläger sowie der Hauptankläger wurden von der Regierung angestellt.
Die Anklageschrift gegen die Hauptangeklagten wurde am 5. Dezember 1944 angefertigt. Die Vernehmung und die Untersuchung gegen die drei Regenten, Prinz Kiril Preslavski Sakscoburggotski, Bogdan Filov und General Nikola Mihov, sowie gegen Generäle der obersten Armeeleitung wurden vom NKVD in Moskau durchgeführt. Sie wurden nach Sofia zurückgebracht kurz vor Beginn des Gerichtsprozesses.
Der massenhafteste Todesurteilsspruch in der bulgarischen Geschichte
Die meisten der wichtigen Gerichtsverfahren liefen im Justizpalast in Sofia, das Zweite Kollegialgericht tagte in der Aula der Sofioter Universität. Während der Gerichtsverfahren wurden die angeklagten Abgeordneten unter verstärkter Bewachung aus dem Zentralgefängnis in die Universität gebracht. Es wurden Maßnahmen getroffen, dass keine Außenstehenden, die Angehörigen der Angeklagten inbegriffen, Zutritt bekommen. Gleichzeitig mit den Gerichtsverfahren wurden Gruppen des Jungen Arbeiterbundes organisiert, die vor dem Eingang Losungen skandierten: „Tod der Volksfeinde“.
Am 1. Februar 1945 fällten das Erste und das Zweiten Kollegialgericht ihre Urteile. Zu Tode verurteilt wurden 8 Hofräte, 22 Minister von den Regierungen nach 1941, 67 Abgeordnete und 47 Generäle und hohe Offiziere. Die Urteile waren nicht berufungsfähig.
Das „Volksgericht“ fällte insgesamt 9550 Urteile in 135 Gerichtsverfahren. Zu Tode verurteilt wurden 2730 Personen, 305 bekamen lebenslängliche Urteile. Ca. 200 Personen wurden vor den Gerichtsverfahren ermordet. Es wurden über 200 Unternehmen beschlagnahmt sowie eine große Anzahl von Immobilien und Wertgegenständen. Interniert wurden 4325 Familien der Verurteilten, die Anzahl der Familienangehörigen betrug etwa 12 000.
Die Königin Johanna: Ich wollte sie alle einzeln sehen vor der Hinrichtung
In ihren Memoiren, die 1964 veröffentlicht wurden, beschreibt Johanna, Königin von Bulgarien, die 1946 mit ihrer Familie des Landes verwiesen wurde und im Exil u leben musste, die letzten Augenblicke der zu Tode verurteilten Politiker, Staatsmänner und hohe Offiziere am 1. Februar 1945 folgenderweise:
„Die Verurteilten waren der letzten Hoffnung beraubt, ihre Angehörigen vor dem Tode zu sehen, da ihre Familien deportiert worden waren; deshalb wollte ich sie alle einzeln sehen vor der Hinrichtung…
… Die Eskorte war im Hof des Justizpalastes vom Eingang zur Alabinska-Straße aufgestellt. Auf dieser Strecke stand ein Konvoi von sechs Lastkraftwagen, zu denen die Opfer geführt wurden. Es wurde der Befehl erteilt, die Protestiereden und Schreienden zu schlagen und zu töten. Ein junger Abgeordneter, Ivan Batembergski, schrie: „Hilfe“, sein Schädel wurde mit einem Gewehrkolben zerschlagen.
Ein anderer, der Minister Kozhuharov, Kriegsinvalide und glänzender Schriftsteller, ging am Stock, plötzlich rief er: „Nicht um uns soll man weinen, sondern um Bulgarien.“ Und sang die Nationalhymne „Shumi Maritza“. Er wurde mit einer Pistole erschlagen. Die drei Regenten Kiril, Filov und Mihov wurden zusammen mit drei schwer kranken Verurteilten als letzte herausgeführt. Sie wurden auf ein halbleeres Lastauto geladen. Es wehte ein eisiger Wind.
... Auf den Friedhof in Sofia waren mehrere Bomben eingeschlagen und es waren tiefe Graben entstanden. Die Verurteilten wurden in kleine Gruppen zu diesen schon ausgehobenen „Gräbern“ geführt. Da kein Exekutionskommando zu sehen war, fragte jemand, wie lange man noch in diesem eisigen Wind herumstehen soll. Die Antwort war, dass sie einzeln erschossen werden. Wahrhaftig, zwei Schützen standen schon da mit Maschinengewehren in der Hand. …
… Bei jedem der Erschossen soll (Prof. Alexandar) Stanishev den Puls gefühlt haben und das Herz abgehorcht. Selbstlos musste er diese Handlung so oft ausführen, bis er als letzter selbst ermordet wurde…
Die Leichen der Opfer wurden mit Schlacke überschüttet. Man hoffte, auf diese Weise die Ehrenbezeugung des Volkes zu vermeiden. Es wurde jedoch bekannt, auf den seltsamen Wegen des vox populi, über wen die schwarzen Hügel überschüttet worden waren. Frauen, junge und alte, beteten furchtlos an diesem Hügel; ich selbst ging mehrmals in Begleitung einer meiner Hofdamen zu diesem gemeinsamen Grab und betete. Ich trug Volltrauerkleidung.
Seltsam – die im Winde wehenden schwarzen Schleier habe ich sehr lebendig in Erinnerung. Ich wurde von Weitem erkannt. Doch niemand sagte etwas zu mir. Wir brachten Kerzen und Blumen auf die Kohlenschichten. Die Kerzenflammen konnten wir beim Unwetter nur wenige Augenblicke mit unseren Körpern beschützen. Das war die einzig mögliche Ehrenbezeugung für diese unseligen Toten und für alle anderen in unserer Heimat. Man weiß nichts über sie, auch nicht, ob sie immer noch da begraben liegen.“
Urteilsaufhebung nach dem Niedergang des Kommunismus
1996 wurden vom Obersten Gerichtshof gemäß den Aufsichtsvorschriften die Urteile des Ersten und des Zweiten Obersten Kollegialgerichts aufgehoben wegen Verstöße gegen die Verfahrensregeln. Auf Grund von Klageschriften einzelner Erben wurden auch Urteile anderer Gerichtsbesetzungen des „Volksgerichts“ aufgehoben.
1998 fasste das Verfassungsgericht einen Beschluss, dass das „Volksgericht“ zum damaligen Zeitpunkt „nicht Teil des existierenden und gültigen Justizsystems des Staates […] sondern ein außerordentliches Gericht mit zeitlich beschränkten Kompetenzen darstellte […] Vom Standpunkt der jetzt gültigen Verfassung können die so gefällten Urteile nicht als Rechtsakte anerkannt werden.”
2010 verabschiedete die 41. Volksversammlung eine Änderung des Gesetzes für politische und bürgerliche Rehabilitierung repressierter Personen, die vom UDK-Abgeordneten Latshezar Toshev eingereicht wurde; rehabilitiert wurden auf Grund dieser Änderung die vom Dritten Kollegialgericht des „Volksgerichtes“ verurteilten Mitglieder der Kommissionen zur Ermittlung der Morde an 22 000 polnischen Offizieren und Intellektuellen in Katin und Vinitsa, die 1939 auf Befehl von Stalin durch das NKVD erschossen wurden.
Die Urteile des „Volksgerichts“ wurden im Gesetz zur Erklärung des kommunistischen Regimes in Bulgarien für verbrecherisch, das im Jahre 2000 von der 38. Volksversammlung verabschiedet wurde, als eines der Verbrechen des kommunistischen Regimes eingeschätzt.
Der Tag 1. Februar, an dem im Jahre 1945 die massenhafteste Vollstreckung von Todesurteilen in der bulgarischen Geschichte stattgefunden hat, wurde 2011 zum Ehrentag für die Opfer des kommunistischen Regimes erklärt. Dies geschah auf Grund eines Beschlusses der GERB-Regierung unter dem Premierminister Boiko Borisov auf Vorschlag der Präsidenten Zhelju Zhelev (1990-1996) und Petar Stojanov (1997-2002). Ihre Idee wurde vom politischen Emigranten Dimitar Panitza vorgestellt (vgl. mehr dazu in der Rubrik „Mahn- und Denkmale – HIER).
* Im Artikel wurden Informationen verwendet aus: Polja Meshkov, Dinju Sharlanov „Българската гилотина” – тайните механизми на народния съд [“Die bulgarische Guillotine“ – die geheimen Mechanismen des Volksgerichts,], herausgegeben von der Agentur „Demokratsija“ 1994.